Stille

  • Text - Christoph Olwärther | Photos - Jonathan Danko Kielkowski

Stille

Stille – jener Zustand, in der die eigene Existenz in sich gekehrt ist, während die Welt wie ein gewaltiger Sturm an einem vorbeizieht. Das innere Universum ist dabei dem äußeren überlegen, beobachtet und reflektiert es. Vielleicht ist Stille jenes Gut, das die Epikureer deswegen als das höchste aller Güter klassifiziert haben. Stille als innere Seelenruhe, als Klarheit im Geiste. Es ist nicht auszuschließen, dass wir auch heute nach jenem Gut eigentlich streben. Worin liegen denn die Zwecke aller weiteren äußeren Güter, die uns den Himmel auf Erden versprechen? Sie sind in erster Linie kein Selbstzweck, sondern lediglich Mittel, um Seelenruhe, also Stille zu erreichen. Man möchte sich eben in jenem Zustand befinden, der es gewährt die Außenwelt vom Standpunkt des inneren Subjekts zu beobachten.
Sofern wir manchmal Stille am Rande erfahren können und uns die Gleichstellung der Seelenruhe als höchstes Gut logisch erscheint, sollten wir dennoch hinterfragen, ob es eine solche Form der Ruhe überhaupt geben kann. Folgendes Argument könnte entgegengebracht werden: Absolute Stille könnte es nur geben, insofern die Seele einheitlich ist. Nun gibt es aber viele wissenschaftliche Zweifel, ob die Existenz eines einheitlichen „Ich“s tatsächlich verifiziert werden kann. Wenn die Ströme des Bewusstseins sich als biologische Algorithmen bewahrheiten, dürften wir noch von einem einheitlichen „Ich“ sprechen? Ferner können wir innere Spaltungen im Alltäglichen doch selbst nachvollziehen, denn wir müssen uns schier ein Leben lang mit quälenden Gewissensfragen auseinandersetzen und dabei schwierige Entscheidungen treffen. Ein einheitliches „Ich“ scheint es dabei nicht zu geben, eher erweist sich die Wahrscheinlichkeit höher, dass es sich aus verschiedensten Bewusstseinszuständen zusammensetzt. Es könnte also ein „Ich“ geben, aber von Einheitlichkeit dürfte nicht die Rede sein. Ein plurales selbst also, dass sich, der Außenwelt gleich, immer im steten Wandel befindet, bis der Tod unter Umständen einen neuen Weg ebnet. Wie könnten wir es sonst erklären, dass sich Persönlichkeiten wandeln oder Sichtweisen verändern?
Innere Stille müsste aber ein einheitliches, von Gegensätzen befreites „Ich“ haben. Denn wo Gegensätze bestehen, herrscht höchstens ein kalter Konflikt, aber keine „wirkliche“ Ruhe. Muss also der Gedanke der Epikureer als ein weiterer Versuch abgestempelt werden, dem Leben einen Sinn zu verschaffen? Oder beschreibt Seelenruhe wirklich einen Selbstzweck? Vielleicht ist absolute Stille ein weiterer Zustand, in dem das „Ich“ sich zurückziehen möchte, dem inneren Widerstreit müde, der Hektik der Außenwelt zum Trotz, der Selbstreflexion bedarf. Muss sie ein Selbstzweck sein, um erlebt zu werden?
Veröffentlicht am 07.12.2020 von Jonathan Danko

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