Skyscraper Skeleton

Spain | Urban Stroll | 2018

  • Text - Manuel Fromm | Images - Jonathan Danko Kielkowski

URBAN STROLL | BARCELONA | EP 1

Am südöstlichen Ende der Ramla de Krim gegenüber vom Parc del Fòrum in Barcelona dominiert, umringt von Luxushotels, Mals und Konferenzzentren, das Skelett eines sich im Verfall befindenden, nie fertig gestellten Hochhauses den Platz. Schon vor sechs Jahren zog mich dieses, im krassen Kontrast zu der schicken Nachbarschaft stehende Gebäude in seinen Bann. Damals ging ich an dem Gebäude vorbei. Zu hoch, zu gefährlich, zu einsehbar. Alles Ausreden.

So stehe ich auch dieses Mal wieder vor dem Gebäude und sinniere über Sinn und Unsinn einer Besteigung. Die geneigten Interessenten, in diesem Falle Verena und ich, werden von einer unüberwindbar scheinenden Mauer, welche, wie eigentlich jede unüberwindbar scheinende Mauer, mit einem ebenso unüberwindbaren scheinenden Eisentor einher geht, an einem Betreten des Geländes gehindert. Die schwere Kette und das massive Schloss an jenem Eisentor unterstreichen dessen dominierende Eigenschaft mit Nachdruck. Wir schlendern die Mauer entlang. Im Hinterhof des angrenzenden Luxushotels hat jemand vor uns den Existenzgrund besagter Mauer durch eine provisorische Treppe unterwandert. Diese aus Paletten und Müll improvisierte Aufstiegsmöglichkeit ist wohl hochfrequentiert. Zumindest lässt eine Lücke in dem eigentlich oberhalb des Mauerscheitels überall vorhandenen Netzes darauf schließen. Ein zur Prüfung der Gegebenheiten vorsichtig über die Mauer geworfener Blick, offenbart uns die Anwesenheit eines parkenden Security Autos. Über den Inhalt des Autos kann ich an der Stelle durch die eingeschränkte Dauer des geworfenen Blickes keine Aussage treffen.

Moment mal! Die Kette an dem Eisentor vorhin war doch von außen abgeschlossen, oder? In dem Auto kann gar keiner sein! Durch diese Erkenntnis wird der aufflammende Frust über den vermeintlichen Störenfried im Keim erstickt. Wir klettern auf die Mauer und springen auf das Gelände. Durch die offensichtliche Abwesenheit weiterer Security hat das Auto seine Eigenschaft als moderne Form der Vogelscheuche nun endgültig eingebüßt. Es ist mitten am Tag. Am Kongresszentrum gegenüber findet eine Messe statt. Ich kam mir noch nie so beobachtet vor. Die, durch die Einsehbarkeit des Geländes ausgelöste, leichte Panik führt zu einem zügigen Erreichen unseres nächsten Zieles. Einem von Beton umschlossenen Treppenhaus, dessen Zugang uns von einem weiteren Eisentor verwehrt wird. Die Überwindung desselben stellte uns angesichts des anzuwendenden Kletterskillevels vor keine allzu großen Probleme, allerdings hätte die dabei erzeugte Geräuschkulisse unter anderen Umständen auch Teil einer Industrial-Music Performance sein können. Notiz an mich selbst: Nächstes Mal ein Aufnahmegerät mitnehmen!

Schnell aus dem Sicht-Bereich der Straße verschwinden! Hat uns jemand gesehen? Unverhältnismäßige Paranoia erhöht unsere Geschwindigkeit beim Treppensteigen enorm. Völlig übertrieben. Niemand interessiert sich für uns und das, was wir hier veranstalten. Der Krach, den wir erzeugen geht im Stadtlärm unter und die Menschen gehen vermutlich wichtigeren Dingen nach, als unsere Turnübungen zu bewundern. 

Keine Fassade. Um das Dach zu erreichen sind 25 Stockwerke zu erklimmen. Mit steigender Höhe werden meine Knie weicher. Klaffende Löcher schauen mich an. Die Netze, welche vor vielen Jahren wohl in den Innenräumen angebracht wurden, um herunterfallende Menschen an einem überraschenden Treffen mit dem Boden zu hindern, sind nur noch partiell vorhanden. Die Schwingungen des Gebäudes werden spürbar. Ich laufe so nah wie möglich an den Innenwänden entlang nach oben. Schweiß tropft mir von der Stirn und von den Händen. Risse im Beton werden deutlich sichtbar. Das Gebäude neigt sich. Der Boden gibt nach. Ich falle. Scheiß Höhenangst! Ich zwinge mich weiter zu laufen. Verena geht zielstrebig voran und ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Was ist los? Hast du Angst? Was? Nee. Quatsch! Für professionelle Roofer, wie man sie aus zahlreichen Youtube-Klick-Hits kennt: Kindergarten. Für mich: Die Besteigung eines Fünftausenders. So unterschiedlich die Menschen, so unterschiedlich die Lebensrealitäten. Als Kind habe ich mich nur über Brücken getraut, wenn ich in der Mitte der Fahrbahn laufen konnte. Bei Gebäuden war ab dem dritten Stock Schluss. Noch in der zwölften Klasse musste ich mich beim Versuch auf das Dach des Florenzer Doms zu gelangen auf halber Strecke der Höhenangst geschlagen geben und nach einer Panikattacke wieder nach unten eskortiert werden. Seit einigen Jahren kämpfe ich nun aktiv gegen diese Urangst an. Woher sie kommt? Kein Plan. Ist wohl angeboren. Bei mir in der Familie bin ich der Einzige. Ich konzentriere mich auf das Fotografieren. Die Angst wird unterdrückt. Der Fokus verlagert. Ich funktioniere wieder und komme so beim Erreichen der obersten Stockwerke in den Genuss einer atemberaubenden Aussicht.

Impulsunterdrückung. Auf dem Dach angekommen wage ich mich Schritt für Schritt an den Abgrund heran. Der Ruf der Leere wird lauter. Woher kommt das eigentlich? Ich stehe an der Kante und blicke nach unten. Der nächste Schritt ist imaginär. Vor einigen Jahren habe ich einen Beitrag über die Entwicklung von Maschinen, die sich durch Gedanken steuern lassen gesehen. Impulsunterdrückung. Das Wort schiebt sich immer wieder in mein Bewusstsein. Man denkt einen Befehl und dieser wird von einer Maschine sofort ausgeführt. Kampfjets, deren Raketen durch bloße Gedankenkraft abgefeuert werden. Wie müssen die Sicherungssysteme aussehen? Kann man die Reaktion eines Menschen auf seine Umwelt wirklich zuverlässig kontrollieren? Was passiert, wenn man im Augenblick des Schusses von seinem Ziel abgelenkt wird und an etwas ganz anderes denkt? Den Impuls weiter zu gehen kann ich unterdrücken, da es um mein Leben geht. Gilt das auch für das Leben von Anderen? Mir wird flau im Magen. Impulsunterdrückung. Für heute bin ich zufrieden. Jo vs. Höhenangst: 1:0

Als wir abends wieder im Hotel sind, versuche ich etwas über die Geschichte des Gebäudes zu erfahren. Finden kann ich trotz langer Suche nichts. Vermutlich hat sich hier irgendein Investor verspekuliert. Ziemlich sicher ein Überbleibsel der Immobilien-Krise von 2008. Statt valider Fakten finde ich aber einige unterhaltsame Youtube-Videos von Leuten, die sich auf dem Skelett bereits vor uns ausgetobt haben. Eines davon am Tag vor unserem Besuch aufgenommen und am Tag unserer Besteigung hochgeladen. Da erscheint der eigene Aufstieg wieder wie Kindergarten.

Bei Interesse im Folgendem zu sehen. Cheers!

Veröffentlicht am 28.10.2018 von Jonathan Danko

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